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Aikido als Selbstverteidigung?

Es ist eine immer wieder gern gestellte Frage: ob sich Aikido als Selbstverteidigung eigne? Bevorzugt wurde sie von Neulingen nach einem der ersten Trainings gestellt, tauchte aber auch schon in Diskussionsforen im „www“ auf.

Die einfachste Antwort auf diese Frage ist kurz und bündig: JA! Aikido ist Budo, Kampfkunst, und damit muss es selbstverständlich kampfwirksam sein. Doch will ich dieses „JA“ nicht unkommentiert lassen, weil Aikido für mich viel mehr ist als Selbstverteidigung, ja den Begriff an sich überflüssig werden lässt! Doch zum Verständnis dessen muss ich weiter ausholen:

Verteidigung des Selbst. Welchen Selbstes, was ist damit gemeint: das in unserer Gesellschaft als heilig postulierte individuelle jedes Einzelnen? Diese jeweils einzigartige Sammlung von Haltungen, (Vor-)Urteilen, (Vor-)Lieben Meinungen, Konzepten, dem Bild, das wir von unserer Körperlichkeit mit uns herumtragen? Das, wofür wir regelmäßig alle zusammen Milliarden in Versicherungspolicen investieren? Für die Verteidigung dessen genutzt verkäme Aikido gar zu schnell zum Werkzeug des Kleingeistes. Nein, für dieses Selbst ist keine Verteidigung von Nöten. Für mich ist Aikido ein Weg, zu erkennen, wie nutzlos meine Vorstellungen und Bilder vom Selbst sind, wie hinderlich jedes Festhalten an den Konzepten vom Selbst werden kann.

Doch ist Aikido deshalb überflüssig? Natürlich nicht, sonst hätte ich es sicher schon gelassen. Es geht um den Schutz unseres Körpers vor Bedrohung durch physische Gewalt. Denn nur in diesem Körper können wir unser Leben leben. Und unsere menschliche Erscheinungsform ist ein unfassbares Geschenk. Die Möglichkeiten, die uns damit gegeben sind, scheinen unerschöpflich. Doch dieses Potential steht den meisten Menschen nicht mehr (direkt) zur Verfügung. Zu groß ist die Verblendung, die Unwissenheit dem gegenüber, wer wir EIGENTLICH sind, unserer wahren Majestät gegenüber. Deshalb kommt es zu dem alltäglichen Wahnsinn, mit dem wir heute konfrontiert sind. Deshalb kommt es zu Aggression Schwächeren gegenüber, und so hat der Aikido-Übende eine Verpflichtung: da zu sein zum Schutz des Lebens.

Damit müssen wir eben nicht mehr nur die Schulung unseres Körpers für die Techniken des Aikido bewerkstelligen, sondern auch unserem Geist den Weg zu seiner eigentlichen Funktionsweise wieder frei machen. Zulassen, das wir sehen, auch mit dem Herzen. Denn das oben beschriebene Selbst in der Form der Verblendung ist derart schnell, dass es dem weisen „Urgeist“, der uns ebenfalls innewohnt, regelmäßig zuvorkommt. So schnell und so laut, dass wir es nicht einmal mitbekommen. Und so kommt es immer wieder mal zu grotesken Szenen:

Während meines Studiums in Weimar spielte sich folgende kleine Begebenheit ab: auf dem Weg zum Gitarrenunterricht sah ich das Handgemenge zwischen einer zeternd heulenden Frau und einem recht grimmigen Mann. Beherzt griff ich ein und zu (nur mit rechts, in der linken hatte ich ja meine Gitarre) und befreite die Frau aus den Griffen des Mannes. Die soeben befreite nutzte die Gunst des Augenblickes und floh. Fast im selben Moment kamen zwei Verkäuferinnen aus der nahe liegenden Drogerie, um sich der soeben auf frischer Tat ertappten Ladendiebin anzunehmen…

Es gehört also offensichtlich die Meditation zur Schulung des Geistes dazu, in der wir Besonnenheit und Wachheit, Intuition und echte Sicht wieder zulassen lernen. Ohne Meditation, ohne das Stillwerden des Geistes sind wir viel zu stark vom Tagesbewusstsein beherrscht, in dem wir von den eingefahrenen Meinungen geführt und von unseren Ängsten blockiert werden. Mit diesen Konditionierungen sind wir unserer Umwelt jedoch kaum von Nutzen… Und dass auch ich selbst damit zu kämpfen haben merke ich immer, wenn sich z.B. im Aikidotraining mein verblendeter Geist einschaltet: dann kann es nämlich sein, dass bei einem entsprechend guten Angriff selbst Grundtechniken nicht mehr funktionieren. Umso wichtiger, dass im Falle des Falles, wenn ich wirklich kämpfend beschützen muss, mein Geist ruhig ist. Er hat ja seine eigenen Selbstschutzstrategien: „…muss ich wirklich helfen, muss wirklich ich helfen…??? …zum Glück sind ja genug andere da…!!!“

Nur ein offener, freier und „leerer“ Geist gibt uns die Möglichkeit, Aikido zum Wohl der Welt einzusetzen, frei von dem Streben nach persönlichem Vorteil. Solch ein leerer Geist hat keine Absicht, sieht aber, was zu tun ist. Dieser Geist nutzt Aikido nach seinen Möglichkeiten, beschränkt sich aber eben nicht darin. Er hat nichts zu verlieren und nichts zu gewinnen. Er ist mit allem verbunden und kennt seinen Platz in der Welt. Aus diesem Zustand heraus konnte O Sensei Morihei Ueshiba sagen: „Wer mich angreift, greift das ganze Universum an!“

Zu Beginn hieß es, Aikido gehe über Selbstverteidigung weit hinaus. Es beginnt mit der Erprobung des richtigen Abstandes, geht über das Gespür für den rechten Zeitpunkt bis hin zur Übung in der Wahl der Mittel. Wir lernen zu fallen, ohne uns weh zu tun und sofort wieder aufzustehen, auch wenn wir tausend Mal am Boden liegen. Wir üben, handfeste Angriffe zu akzeptieren, ohne die Fassung zu verlieren und in unserer Aktion den Angreifer unversehrt zu lassen. Dieses Training wirkt sich auf alle Bereiche des Lebens heilsam aus.

Im Aikido können wir lernen, den Begriff „Selbstverteidigung“ überflüssig werden zu lassen. Wir lernen zu verstehen, dass es immer um Alles geht, eben auch um den Angreifer. Wir können Aikido als Weg benutzen, sterben zu lernen und sterben zu lassen: unsere eigene Ignoranz, die Arroganz, unseren Stolz und unsere Aggression. Genau wie die des Angreifers, der wir am Ende selbst sind. Letztlich gibt es nichts zu verteidigen.

Aikido, Budo, Hintergrund, Selbstverteidigung

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